22.000 noch lebende Juden, die während der NS-Zeit in einem Ghetto gearbeitet haben, sollen keine umfassend rückwirkende Rentennachzahlung erhalten. Waren Rentenanträge zwar rechtswidrig aber trotzdem rechtskräftig abgelehnt worden, greift für die nach späterer Rechtsprechung doch noch fälligen Nachzahlungen die gesetzliche Rückwirkungsgrenze von vier Jahren, wie am Dienstag, 07.02.2012, der 13. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in Kassel entschied (AZ: B 13 R 40/11 R und B 13 R 72/11 R). Den Betroffenen entgehen dadurch Nachzahlungen zwischen meist 15.000,00 und 20.000,00 €. Die Rentenkassen sparen nach Schätzung der Rentenversicherer zwischen 400 und 500 Millionen €.

Nach dem Ghetto-Renten-Gesetz (ZRBG) aus dem Jahr 2002 erkennt die Rentenversicherung Arbeitszeiten in einem Ghetto als Beitragszeiten an, wenn Juden dort „aus eigenem Willensentschluss“ und „gegen Entgelt“ tätig waren und bis Ende Juni 2003 einen Antrag stellen. Statt der erwarteten wenigen Tausend wurden rund 70.000 Anträge gestellt. Die Rentenversicherer lehnten diese zunächst weit überwiegend ab, weil die Arbeit nicht freiwillig gewesen und zudem meist nur mit Lebensmitteln vergütet worden sei.

In dem rechtlichen Streit stießen das Sozialgericht Hamburg und das Landessozialgericht Essen mit Gutachteraufträgen eine umfassende historische Forschung zu den Arbeitsbedingungen in Ghettos an. Als Konsequenz wertete am 2. und 03.06.2009 das BSG die Ghettoarbeit als Arbeit gegen Entgelt (AZ: B 13 R 81/08 R, B 5 R 26/08 R und weitere). Die Antragsteller erhalten nunmehr überwiegend eine Rente von monatlich meist 100,00 bis 300,00 €. Wie im Ghetto-Renten-Gesetz vorgesehen zahlten die Rententräger meist auch rückwirkend bis Juli 1997 nach.

In den nun entschiedenen und 22.000 weiteren Fällen hatten NS-Opfer ihren Antrag rechtzeitig bis Mitte 2003 gestellt. Allerdings waren die zunächst ablehnenden Bescheide und entsprechende Gerichtsurteile rechtskräftig geworden. Nach Überzeugung der Rententräger waren die alten Anträge damit untergegangen. Nach einem erneuten Überprüfungsantrag lasse das Gesetz daher Zahlungen nur noch rückwirkend ab 2005 zu.

Dem schloss sich das BSG nun an. Auch die Ghettorenten seien Teil der gesetzlichen Rentenversicherung. Daher greife die dort generell gültige Begrenzung rückwirkender Leistungen auf die vorausgehenden vier Kalenderjahre. Diese Rückwirkung sei im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten noch großzügig und daher auch nicht verfassungswidrig.

Am Mittwoch, 08.02.2012, verhandelt über dieselbe Frage auch der 5. Rentensenat des BSG. Es wird erwartet, dass er entsprechend entscheidet.

Die Berliner Rechtsanwältin Simona Reppenhagen kündigte bereits eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht an. Der Umfang der Leistungen dürfe nicht von dem Zufall abhängen, wann eine rechtswidrige Entscheidung rechtskräftig wurde. Bestraft würden damit ausgerechnet diejenigen, die um ihr Recht gekämpft und so die BSG-Urteile von 2009 überhaupt erst möglich gemacht hätten. Viele NS-Opfer, über deren Rentenantrag noch nicht abschließend entschieden worden ist, würden dagegen eine Rentennachzahlung ab 1997 erhalten. Dies müsse auch für die Kläger gelten.

Unterdessen berät der Bundestag bereits über einen Initiativantrag, der die Ghettorenten von der gesetzlichen Rückwirkungsklausel ausnehmen soll.

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