Leben volljährige Behinderte oder Pflegebedürftige noch bei den Eltern oder in einer Wohngemeinschaft, darf das Sozialamt dies nicht als Grund für geringere Sozialhilfeleistungen nehmen. Denn auch trotz einer geringeren Leistungsfähigkeit können sie im Zusammenleben mit anderen Personen einen eigenen Haushalt führen, so dass ihnen in der Regel eine ungekürzte Sozialhilfe zusteht, urteilte am Mittwoch, 23.07.2014, das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel in drei Fällen (AZ: B 8 SO 14/13 R, B 8 SO 31/12 R und B 8 SO 12/13 R).

Der 8. BSG-Senat begrenzte damit die verbreitete Kürzung der Sozialhilfe-Leistungen nach der zum Jahresbeginn 2011 eingeführten „Regelbedarfsstufe 3“. Diese soll volljährige Hilfebedürftige erfassen, die weder einen eigenen Haushalt führen noch in einer festen Partnerschaft leben. Sie bekommen dann nur 80 Prozent des Sozialhilfesatzes für einen alleinstehenden Erwachsenen, derzeit 313,00 € statt 391,00 €.

Die geringere Sozialhilfe wollten die drei Kläger nicht hinnehmen. Im ersten Fall war die pflegebedürftige und mittlerweile verstorbene Klägerin zu ihrer Freundin in die Stadt Bünde bei Detmold gezogen. Die Freundin pflegte die Sozialhilfeempfängerin in ihrer Wohnung und kam auch weiterhin alleine für die Miete auf. In den beiden anderen Fällen lebten die zwei geistig behinderten Kläger noch bei ihren Eltern.

Die Sozialhilfeträger gewährten den Klägern zwar Sozialhilfe, jedoch nur nach der Regelbedarfsstufe 3. Wegen ihrer individuellen Einschränkungen führten sie keinen eigenen Haushalt und könnten mutmaßlich auch zu einem gemeinsamen Haushalt weniger beitragen. Auch lebten sie nicht in einer Partnerschaft. Die gesetzlichen Bestimmungen würden dann eine um 20 Prozent gekürzte Sozialhilfe vorsehen, so die Behörden.

Die Kläger hielten die Sozialhilfe-Vorschriften unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 3 für eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung. So könnten Hartz-IV-Empfänger ab dem 25. Lebensjahr eine ungekürzte Hilfeleistung beanspruchen, bei ihnen würde die Sozialhilfe aber um 20 Prozent gekürzt.

Das BSG verwies die Verfahren wegen fehlender Feststellungen zwar an die Vorinstanzen zurück, stellte jedoch auch klar: Nur weil ein behinderter oder pflegebedürftiger Mensch weniger leistungsfähig ist, dürfe das Sozialamt nicht davon ausgehen, dass er keinen eigenen Haushalt führen kann.

Vielmehr müssten im Regelfall die Sozialämter nach den geltenden Bestimmungen davon ausgehen, dass behinderte oder pflegebedürftige Sozialhilfeempfänger ohne Partner, die mit einer oder mehreren Personen zusammenleben, einen eigenen Haushalt haben. Damit stehe ihnen der volle Sozialhilfesatz zu, so die obersten Sozialrichter.

Für volle Leistungen müsse es ausreichen, wenn sich Hilfeempfänger „im Rahmen der jeweiligen geistig-seelischen und körperlichen Leistungsfähigkeit“ an der Haushaltsführung beteiligen.

Eine Sozialhilfekürzung auf 80 Prozent sei nur denkbar, wenn das Sozialamt nachweisen kann, dass der Sozialhilfeempfänger im Zusammenleben mit einer anderen Person keinerlei Beitrag zur Haushaltsführung leistet.

Die Anwendung der Regelbedarfsstufe 3 kommt nach den BSG-Urteilen nur in seltenen Einzelfällen in Betracht. Ob dies– etwa bei Komapatienten – verfassungswidrig wäre, bleibt nach den Kasseler Urteilen offen.

Nach Angaben der Lebenshilfe profitieren mindestens 30.000 bis 40.000 behinderte Menschen von der Entscheidung. „Wir freuen uns, dass jetzt die Ungleichbehandlung gestoppt wurde. Die Hilfebedürftigen können rund 80,00 € mehr im Monat erhalten“, sagte Antje Welke, Justiziarin der Lebenshilfe.

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