BAG: „Grundsatz der Öffentlichkeit“ erfasst nur Zugang zum Gericht
Ruft ein Gericht ein Verfahren vor der eigentlichen Terminankündigung auf, wird damit noch nicht der „Grundsatz der Öffentlichkeit“ verletzt. Denn dieser Grundsatz, der letztlich der Kontrolle der Gerichte dient, solle lediglich sicherstellen, dass sich die Rechtsprechnung der Gerichte „nicht hinter verschlossenen Türen abspielt“, entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt in einem am Dienstag, 11.04.2023, veröffentlichten Beschluss (AZ: 2 AZN 335/22). Es sei hierfür aber nicht erforderlich, dass „jedermann weiß, wann und wo eine mündliche Verhandlung stattfindet“.
Hintergrund des Rechtsstreits war ein Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Köln um die Auflösung eines Arbeitsverhältnisses und der Rechtmäßigkeit von Abmahnungen in der Personalakte eines Arbeitnehmers.
Das LAG hatte das Arbeitsrechtsverfahren für den 21.03.2022 um 9.30 Uhr terminiert. Tatsächlich wurde das Verfahren bereits vor 9.30 Uhr aufgerufen. Auch die Anträge der Prozessbeteiligten, darunter der Anwalt des klagenden Arbeitnehmers, wurden vorzeitig gestellt.
Als das LAG sein Urteil verkündete, machte der Anwalt schließlich einen „absoluten Revisionsgrund“ und damit Verfahrensfehler geltend.
So sei der Grundsatz der Öffentlichkeit nicht eingehalten worden, weil das für 9.30 Uhr terminierte Verfahren vorher begonnen habe. Zudem sei das LAG nicht auf seine Anträge hinsichtlich der Entfernung der Abmahnungen aus der Personalakte ausreichend eingegangen. Damit sei der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden. Der Anwalt verlangte, dass neu verhandelt werden müsse.
In seinem Beschluss vom 24.11.2022 entschied das BAG, dass das LAG gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen habe. Die Anträge zur Entfernung der Abmahnungen aus der Personalakte seien nicht ausreichend berücksichtigt worden. Das Verfahren müsse daher erneut verhandelt werden.
Allerdings habe das LAG nicht gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit verstoßen, indem es vor der eigentlich terminierten Uhrzeit mit der Verhandlung begonnen habe. Dies gelte auch, wenn sogar die Anträge der Parteien schon vorher aufgenommen wurden. Denn der Grundsatz der Öffentlichkeit solle gewährleisten, dass „sich die Rechtsprechung der Gerichte grundsätzlich ‚in aller Öffentlichkeit‘, nicht hinter verschlossenen Türen, abspielt. Dies diene letztlich der Kontrolle der Gerichte.
Der Grundsatz der Öffentlichkeit werde gewahrt, wenn die Verhandlung in Räumen stattfindet, zu denen währen der Verhandlungsdauer grundsätzlich jedermann der Zutritt offenstehe. Dies sei hier der Fall gewesen.
Der Grundsatz der Öffentlichkeit umfasse aber nicht, „dass jedermann weiß, wann und wo eine mündliche Verhandlung stattfindet“. „Der Schutz des Vertrauens in Terminankündigungen wird von ihm nicht erfasst“, betonte das BAG.
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Der vorliegende Beschluss des BAG vom 24.11.2022 (Az. 2 AZN 335/22) scheint der eigenen Rechtsprechung des BAG sowie der des BGH und BVerfG zu widersprechen.
Eine mündliche Verhandlung vor dem LAG ist öffentlich gemäß § 52 S. 1 ArbGG i.V.m. § 64 Abs. 7 ArbGG.
Die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes (§ 169 Abs. 1 S. 1 GVG), der ein grundlegendes Prinzip des Rechtsstaats ist und auch aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 S. 2 UN-Zivilpakt folgt, ist ein absoluter Revisionsgrund nach § 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG i.V.m. § 547 Nr. 5 ZPO.
Kissel/Mayer, GVG, 10. Auflage 2021, § 169 GVG, Rn. 48 führt zum Öffentlichkeitsgrundsatz ausdrücklich Folgendes aus:
“Die ordnungsgemäß angekündigte Sitzung muss zur Wahrung der Öffentlichkeit in dem angekündigten Raum zur angegebenen Uhrzeit stattfinden. Das Gericht darf deshalb nicht früher mit der Sitzung beginnen als angekündigt (BGHSt 28, 341 = NJW 1979, 2622; BGH NStZ 1984, 134).”
Der 2. Senat des BAG hatte weniger als acht Monate vor dem vorliegenden Beschluss vom 24.11.2022 (Az. 2 AZN 335/22) den Öffentlichkeitsgrundsatz durch den von ihm zitierten Beschluss vom 02.03.2022 (Az. 2 AZN 629/21) noch bekräftigt und das Urteil eines anderen LAG mit folgendem Leitsatz aufgehoben:
“Auf die Einhaltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes kann im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht verzichtet werden.”
Auch der 6. Senat des BAG bestätigte den Öffentlichkeitsgrundsatz bereits sechs Jahre zuvor mit Beschluss vom 22.09.2016 (Az. 6 AZN 376/16), Rn. 6:
“Der Grundsatz der Öffentlichkeit, der zu den Prinzipien demokratischer Rechtspflege gehört und in § 169 Satz 1 GVG niedergelegt ist, verlangt, dass jedermann bei der Sitzung anwesend sein kann (BAG 19. Februar 2008 – 9 AZN 777/07 – Rn. 8; BGH 6. Oktober 1976 – 3 StR 291/76 – zu I 1 der Gründe, BGHSt 27, 13). Erforderlich ist weiter, dass sich jeder Interessierte ohne besondere Schwierigkeit Kenntnis von Ort und Zeit der Sitzung verschaffen kann (vgl. BVerfG 5. Juli 2006 – 2 BvR 998/06 – Rn. 6; BGH 22. Januar 1981 – 4 StR 97/80 – zu A II 3 a der Gründe). Wird eine Verhandlung oder Beweisaufnahme an einem anderen Ort als dem Sitzungssaal fortgesetzt, ist deshalb sicherzustellen, dass auch unbeteiligte Personen Ort und Zeit der Weiterverhandlung ohne besondere Schwierigkeiten erfahren können (BGH 22. Januar 1981 – 4 StR 97/80 – zu A II 3 a der Gründe). Welche Anforderungen dabei zu stellen sind, hängt vom Einzelfall ab. Im Regelfall ist es zur Wahrung des Grundsatzes der Öffentlichkeit jedoch erforderlich, dass Ort und Zeit des neuen Verhandlungsorts in öffentlicher Sitzung verkündet und durch einen Hinweis am Gerichtssaal bekannt gemacht werden. Nur so ist im Allgemeinen sichergestellt, dass sich auch beliebige Zuhörer, die erst nach der Verkündung der Verlegung des Verhandlungsorts im Gerichtsgebäude erscheinen, über Ort und Zeit der Weiterverhandlung informieren können (vgl. BVerfG 10. Oktober 2001 – 2 BvR 1620/01 – Rn. 6; BGH 22. Januar 1981 – 4 StR 97/80 – zu A II 3 b der Gründe; weiter gehend Kissel/Mayer GVG 8. Aufl. § 169 Rn. 49: Aushang auch am neuen Verhandlungsort).”
Der BGH entschied in einer mit dem vorliegenden Fall vergleichbaren Situation mit Beschluss vom 18.07.2006, 4 StR 89/06 (= NStZ 2013, 64), dass der verfrühte Verhandlungsbeginn eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ist, der durch eine Wiederholung des verfrühten Verfahrensabschnitts geheilt wird.
Die vom 2. Senat des BAG angeführte Entscheidung des BVerfG vom 10.10.2001 (Az. 2 BvR 1620/01) zu 2 der Gründe ist keineswegs einschlägig für den vorliegenden Fall und im vorliegenden Beschluss vom 24.11.2022 unvollständig wiedergegeben; die Entscheidung des BVerfG führt nämlich Folgendes aus:
“Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung gebietet es nicht, dass jedermann weiß, wann und wo ein erkennendes Gericht eine Hauptverhandlung abhält. Es genügt vielmehr, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten davon Kenntnis zu verschaffen, und dass der Zutritt im Rahmen der tatsächlichen Gegebenheiten eröffnet ist (vgl. Kuckein in: Karlsruher Kommentar, 4. Auflage, § 338 Rn. 86 m.w.N.). Beides war hier der Fall. Denn am Gerichtsgebäude selbst waren Hinweise auf Zeit und Ort des Termins angebracht, und die Mitarbeiter des Autohauses hätten interessierten Zuschauern auf Nachfrage mitteilen können, dass entgegen der ursprünglichen Absicht das betreffende Fahrzeug nunmehr zum Gericht verbracht worden ist, um es dort in Augenschein zu nehmen.”
Die vom 2. Senat des BAG zitierte Entscheidung des OLG Hamm vom 25.06.2012, III-3 RBs 149/12 (= NStZ 2013, 64), Rn. 14 f., ist ebenfalls überhaupt nicht einschlägig für den vorliegenden Fall. Dies bestätigt auch ein Blick in den Karlsruher Kommentar zur StPO mit GVG, 8. Auflage 2019, § 169 GVG, Rn. 7:
“Sind Ort und Zeit der Verhandlung ordnungsgemäß bekannt gegeben, reicht dies für die Wahrung der Öffentlichkeit aus; dass der Aushang keine Uhrzeit ausweist oder die Sitzung zu einer späteren Uhrzeit beginnt als angekündigt, ist unschädlich (OLG Hamm NStZ 2013, 64 mwN). Üblich und idR notwendig ist ein außerhalb am Verhandlungssaal während der Verhandlung angebrachter Hinweis.”
Ja, ich war auch etwas überrascht über die Entscheidung des BAG in diesem Rechtsstreit. Irgendwo drängt sich mir der Eindruck auf, dass es dem BAG darum ging, das Verfahren “zu retten”, nach dem Motto “So schlimm war´s doch auch nicht.”. Ist schon merkwürdig.
Das Verfahren mit einer fehlerhaften Rechtsanwendung zu “retten” ist in einem Rechtsstaat selbst in einem Einzelfall, der jedoch zu einem Präzedenzfall werden kann, keine akzeptable Idee. Da Verfahren und Urteil des LAG offenbar noch weitere ernste Probleme hatten, ist die durch das BAG erfolgte “Rettung” ebenfalls höchst fragwürdig.
Darüber hinaus erläutert die Justiz NRW (wie das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 10.10.2001, Az. 2 BvR 1620/01) im Online-Recht von A bis Z für Bürgerinnen und Bürger unter
https://www.justiz.nrw.de/BS/recht_a_z/O/__ffentlichkeitsgrundsatz/index.php Folgendes:
“Öffentlichkeitsgrundsatz bedeutet, dass eine Gerichtsverhandlung an einem Ort oder in einem Raum stattfinden muss, zu dem während der Verhandlung jedermann der Zutritt offen steht. Hierzu gehört auch, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich vorab ohne besondere Schwierigkeiten über Zeit und Ort einer Gerichtsverhandlung zu informieren.”
Gerade den zweiten Satz zur vorab notwendigen Ankündigung einer Gerichtsverhandlung mit Zeit und Ort ignorierte das BAG. Im vorliegenden Fall gab es keine Ankündigung der geänderten Zeit.